Der kirchliche Irrglaube, dass die Dinge wie gewünscht funktionieren, wenn man nur auf der innerkirchlichen Marschroute mit ihren Sitten, Gebräuchen und Sprachregelungen bleibt, hält sich in Westfalen immer noch hartnäckig. Legendär, wie man damals einer Mahnwache mit einem Verwaltungsbeschluss kam und sich wunderte, dass das nichts fruchtete, im Gegenteil. Das ist zugegeben lange her, die Fortbildungen in Krisen-PR, die das nach sich zog, aber offenkundig auch. „Da draußen sind Leute, denen euer Ringelpiez egal ist“, möchte man aufs Neue rufen. Doch zu spät. Der vormaligen Präses Annette Kurschus wurde das zum Verhängnis.
„Die Evangelische Kirche von Westfalen und die Evangelische Kirche in Deutschland sind seit Jahren der Mittelpunkt meines Lebens. Nicht nur meine Tage, auch mein ganzes Denken und Handeln sind davon bestimmt.“ So begann Kurschus ihre Abschiedserklärung. Als Pfarrerstochter wurde sie in diesen Mittelpunkt direkt hineingeboren, ihren Dienst versah sie vom Vikariat bis zur Präseswahl einzig in Siegen. Wohlgemerkt, die Kirche, nicht Gott oder Jesus ist es, der Kurschus ihr „ganzes Denken und Handeln“ widmet. Wobei es im gegebenen Anlass auch nicht um göttliches Heilshandeln, sondern um den eigenen Wirkungskreis ging. Eine Menge Pfarrer:innen in fortgeschrittener Amtszeit denken irgendwann, dass sich die Erde nicht um die Sonne, sondern um sie und ihren Dienstsitz dreht. Nur sind da draußen eben Leute und die sehen die Welt ganz anders.
Darauf gestoßen, dass daher für sie keine Sonderregeln gelten, reagieren solche Kolleg:innen oft mit heiligem Zorn, der in Kurschus‘ Erklärung ebenfalls gut zu beobachten war. Denn der Treffer saß, wie sie selbst zugab: „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden.“ Doch schon damals wurde die Fürsorgepflicht gegenüber erwachsenen Schutzbefohlenen offen kommuniziert und auch angewendet. Als ich 2001 als Vikarin ins Predigerseminar kam, war eine im Jahr zuvor bekannt gewordene heterosexuelle Situation immer noch Gesprächsthema bei uns im Kurs. Dabei hatte der höherrangige Part die Stelle längst wechseln müssen und die Beteiligten waren mittlerweile verlobt.
Innerkirchliche Entscheidungswege sind also sachlich nicht automatisch falsch, auch wenn sie bisweilen befremdlich wirken. Kurschus war im Siegener Fall nicht Dienstvorgesetzte und hat sich wohlweislich in die heutige Aufklärungsarbeit nicht eingemischt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob man sie wirklich umfassend genug informiert hat. Das hätte vorausgesetzt, dass jemand PR-seitig oder seelsorglich (gegenüber der Präses, wohlgemerkt) die Brisanz der Nachricht begreift.
Wie schnell und leichtherzig man Kurschus schließlich gehen ließ, finde ich allerdings erstaunlich. Das gilt besonders für die Ev. Kirche in Deutschland (EKD) mit ihrem Umfeld. Es wirkt, als hätten da einige ein paar Rechnungen offen, mindestens aber als wäre man ziemlich unzufrieden gewesen. Hinzu kommt, dass ein Rücktritt auf den ersten Blick immer einfach ist: Der Konflikt ist vom Tisch, wer da bleibt, hat gewonnen. Aber die Halbwertszeit dieser Trophäe hängt an den Verbesserungen, die das nach sich zieht, inhaltlich und personell. Daran werden sich diejenigen messen lassen müssen, die die Tür vielleicht nicht aufgerissen, aber den Luftzug durchaus genossen haben. Wollen wir hoffen, dass ihnen dabei aufgefallen ist, dass da draußen Leute sind.
Ich jedenfalls schätzte den Stil, mit dem Kurschus die Anliegen des Evangeliums und der Kirchen zu Gehör brachte. Die wohlüberlegte Entschiedenheit der Präses hob sich für meinen Geschmack angenehm vom politisch-medialen Dauerfeuer ihrer Vorgänger:innen in der EKD ab. Ihr unprätentiöses Auftreten war mir als westfälischer Pfarrerin, die so oft mit ihrer Kirche hadert, ein Trost. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich wissen will, was als nächstes kommt oder ob ich lieber draußen bleibe, wo die Leute sind.
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