In der Kirchengemeinde meiner Heimatstadt gab es einen Oberstaatsanwalt. Er arbeitete am Oberlandesgericht, eine Stunde mit dem Auto entfernt. Alle kannten ihn. Er war groß und stattlich und hatte eine leichte Schnappatmung wie ein Karpfen auf dem Trockenen. Man musste gar nicht gucken, ob er in der Presbyterbank saß, neben dem rechten Seitenportal, wo er nach dem Gottesdienst die Kollekte einsammelte. Man hörte ihn atmen, jeden Sonntag, in den Predigtpausen und der Stille beim Gebet: „Schnapp!“
Nicht nur in der Kirche, in der ganzen Stadt kannte man ihn. Das ist oft so, wenn einer als Akademiker und Presbyter für das Gemeinwohl unterwegs ist. Der Oberstaatsanwalt, Doktor des Rechts, saß außerdem noch im Stadtrat, immer ansprechbar, kümmerte sich, war Kirchmeister, Verwaltung und Finanzen waren sein Metier.
Verheiratet war er nicht, sondern lebte mit seiner alten Mutter, bis sie starb. Mit Kindern hatte er nichts am Hut. Wir mochten ihn trotzdem. Wir fühlten uns von ihm beschützt, er achtete darauf, dass wir zur Kirche und aufs Stadtfest konnten. Der Klingelbeutel war auch für die Jugend da. In einer Kleinstadt irgendwo zwischen tausend Tälern gibt es für Jugendliche nicht allzu viel.
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