Als junger Radiomoderator hatte Thomas Gottschalk auf Bayern 3 „versucht, die Fronleichnamsprozession auf die Autobahn in Richtung Nürnberg umzuleiten und dabei die Autofahrer vor Weihrauchnebel gewarnt“.

Dafür kassierte er einen Anschiss von Kardinal Joseph Ratzinger und seinem Programmdirektor, zwei ‚alten Männern, von denen er sich nichts vorschreiben lassen wollte‘. Das muss etwa 1977 gewesen sein, als Thommy 27 Jahre alt war.
Mittlerweile ist er 74 Jahre und löckt immer noch wider den Stachel, in seinem neuen Buch allerdings in die umgekehrte Richtung der heutigen Jugend und dem, was allgemein, meist im Internet, los ist. Über diese Themenwahl regen sich vor allem Leute 50+ auf. Der Großteil von ihnen hat die Neuerscheinung weder gelesen noch angehört, sondern schnappte nur irgendwelche Interviewfetzen, Posts und alte Fotos oder Zitate auf. Da fragt man sich schon, wer hier eigentlich peinlich ist.
Der Vorwurf, Thomas habe seine Söhne geohrfeigt, wurde aus seinem ersten Werk „Herbstblond“ destilliert, erschienen vor über neun Jahren. Hätte man dieses damals oder heute gelesen, hätte man wissen können, dass er als junger Familienvater befand, der Mann ginge arbeiten und die Mutter gehörte zu den Kindern ins Haus. Im Angesicht junger Eltern am Kindergarten seiner Enkel hätte er schließlich eingesehen, dass man das auch gelingend anders machen kann. In seinem frisch erschienenen dritten Buch „Ungefiltert. Bekenntnisse von einem, der den Mund nicht halten kann“ zeigt Gottschalk, wo er jetzt gedanklich unterwegs ist, zumindest so weit ein Mann von Mitte 70 es sein kann. Er gelangt zwar nicht mehr überall hin, will das auch gar nicht, kommt aber tatsächlich weiter, als es das Gezeter im Netz und Thommys nicht immer geschicktes Verhalten in aktuellen Interviews vermuten lassen:
Gleichgeschlechtliche Familien hätte er zunächst abgelehnt, bis ihn eine Studie vom Gegenteil überzeugte; er nennt das Ärzteblatt als Quelle. Mit non binary, sagt Thomas sinngemäß, könne er nichts anfangen. Nur um wenig später mitzuteilen, er sei „definitiv bereit, mich daran zu gewöhnen, dass Gewinner des European Song Contest mittlerweile Bart und Abendkleid miteinander kombinieren“. Na, bitte.
Wenn es an diesem Buch etwas auszusetzen gibt, dann eher das teilweise widersprüchliche und redundante Mäandern der Gedanken, das fürs Audiobook vorzulesen Thommy hörbar selbst auf den Wecker geht. Trotzdem versteht man, was er möchte, nämlich seine Lebenserfahrung mit dem Hier und Jetzt ins Gespräch bringen. Wohl wissend, dass er seine besten Zeiten hinter sich hat, was ihm je nach Thema mal mehr, mal weniger ausmacht und zu recht überzeugt davon, dass es keinen Grund gibt, nicht weiter mitzumischen. Außerdem gehört für ihn dazu, sich den Menschen, der etwas sagt, immer als ganzen anzusehen, um zu verstehen, was er oder sie meint. Den Shitstorm, den sich Katrin Göring-Eckardt nach einem Tweet über „weiße deutsche Spieler“ eingefangen hatte, führt Thomas dafür als Beispiel an: „Als Deutschlehrer dürfte ich ihr für ihren missglückten Post […] mangelnde Fähigkeiten im Ausdruck ankreiden… Ihr eine ausländerfeindliche Haltung zu unterstellen […], schießt aber weit über das Ziel hinaus.“
Als sich Thomas auf diesem Gedankenweg mit dem Generationenforscher Dr. Rüdiger Maas unterhält, wird das Hörbuch zum Podcast und richtig lehrreich. Für mein persönliches Nachdenken ist mir vor allem zweierlei klar geworden: Zuerst bei der Klage, dass man heutzutage nichts mehr sagen dürfe. Maas erläutert, dieses Empfinden käme daher, dass eben alle alles sagen dürften, sodass jeder das Gefühl hätte, nichts mehr sagen zu sollen, weil auf jede Rede sofort eine Gegenrede folgt. In meinen eigenen Worten ausgedrückt fehlen im Gegensatz zu früher Raum und Zeit um das eigene Denken und Sagen herum. Das hat mir sehr eingeleuchtet, besonders weil diese Begründung für alle Meinungen gilt, die das ja auch alle für sich behaupten.
Das Zweite war die Umkehrung der Reihenfolgen: Heute ist es oft so, dass Ansichten und Argumentationsweisen der Jüngeren zum allgemeinen Maßstab werden, dem sich die Älteren zuneigen. Früher war es anders herum, man wandte sich dem Wissen und der Erfahrung der vorgerückten Jahrgänge zu. Letztes war deswegen nicht unbedingt besser, die neue Variante führt dennoch jedes Mal dazu, dass Erfahrungswissen und Komplexität verloren gehen, weil sie nicht mehr zählen. Doch das funktioniert für Ältere nicht. Auch wenn sie sich noch so lebhaft daran erinnern, wie schmal selbst das klügste gedankliche Brett in jungen Jahren war, können sie nicht hinter ihr Erfahrungswissen zurück. Nehme ich nun noch diejenigen unter denen ab 40+ hinzu, die für die neugewonnene Legitimation ihrer eigenen Unterkomplexität ganz dankbar sind, bin ich an einer Stelle weiter, zu der ich mir in den letzten Wochen eine Menge Gedanken gemacht habe. Man kriegt im Internet diesbezüglich einiges geboten.
In vergleichbaren Situationen zum Kotau anzutreten, macht Gottschalk weder auf Social Media noch in den Medien mit. Dass seine Sicht aufs Internet eher kritisch und ihm der Community-Aspekt ziemlich fremd ist, mag man bedauern, gehört aber zum gängigen Meinungsspektrum. Überhaupt trifft er die Themen, um die sich die Diskussionen in Gesellschaft und Internet ranken, ziemlich genau.
Thommy, selbst in nachdenklichen Momenten überzeugter Dampfplauderer, bleibt außerdem in Erzähllaune. Die Geschichte, wie Marcel Reich-Ranicki den Fernsehpreis ausschlug, müssen wir uns auch in diesem Buch wieder anhören und können das hoffentlich noch bei vielen weiteren Gelegenheiten. Dazu kommen eine Menge anderer Schnurren, da bleibt er bei seinen Leisten und der Vorrat wirkt unerschöpflich. Dass Thomas das journalistische Handwerk zu einer Zeit gelernt hat, als es beim Schreiben noch Nebensatzkonstruktionen gab, ist mir ebenfalls angenehm aufgefallen.
Ansonsten konnte es Gottschalk schon bei „Wetten, dass“ den Journalisten kaum recht machen, zumindest so weit ich es über die Jahre verfolgt habe. Allein, dass er sich weigerte, investigative oder inquisitorische Fragen zu stellen, sondern konsequent reine Unterhaltung bot, empfand die Kritik als Frechheit. Ich erinnere mich daran, wie Tom Cruise 2009 bei Thomas auf der Wettcouch saß, ohne dass jener ihn wegen Scientology in die Mangel genommen hätte. In dieser Zeit fragte ich einmal eine Freundin, links und politisch korrekt bis in die Haarspitzen, was denn jetzt mit Thommys Übergriffigkeiten sei, ich würde so gar nichts mitkriegen. Das wüsste sie nicht, antwortete sie, ihr wäre in den letzten Sendungen auch nichts aufgefallen. Man würde das halt so sagen. Ach, so ist das. Über den Fahrstuhl und den Hang, Frauen als Dekor zu betrachten, sollten wir trotzdem weiter mit ihm reden.
Als Frau K. alt genug bzw. noch jung genug war, habe ich mir so ziemlich jede Sendung „Wetten, dass“ mit ihr zusammen angeschaut. Wenn ich zwischendurch mal in ein anderes Zimmer ging oder wegnickte, war es auch nicht schlimm. Das war bei DSDS ganz anders. Das haben wir ebenfalls gemeinsam geguckt und ich hatte pädagogisch genug reinzuquatschen und am Montag nach der Schule gleich nochmal. Germany’s next Topmodel musste ich mir nur einmal ansehen, Frau K. gefiel es nicht und das Dschungelcamp glücklicherweise auch nicht. Gut so, ich hätte es ihr sonst solange wie möglich verboten. Die Frage bleibt, über was man sich eigentlich aufregt.
„Ungefiltert“ mochte ich jedenfalls. Ich habe es mir als Hörbuch und fürs korrekte Zitieren als eBook gekauft, ohne von irgendwem dazu gedungen worden zu sein. Als ich das eBook aufschlug, sah ich, dass Thomas ihm ein Zitat von Bob Dylan vorangestellt hatte: „The Times They Are A-Changin'“. Dylan ist mittlerweile 83 Jahre alt und verlangt von jedem, der in seine Konzerte will, dass er sein Handy in einer Schaumstofftasche verschließen lässt, die nur von der Security wieder geöffnet werden kann. Das wird sogar auf die Eintrittskarten gedruckt. So geht es also auch.
Thomas Gottschalk: Ungefiltert. Bekenntnisse von einem, der den Mund nicht halten kann, Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe.
Überschrift von hier.
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