Predigt am Wahltag

Blick auf den Altar: Vor dem Fuß des Kreuzes orange-gelbene Tulpen und Osterglocken. Davor die Altarbibel, daneben eine der Altarkerzen. Im Hintergrund ein Fenster, denn wir sind zur Winterkirche im Gemeindesaal.

Predigt am Sonntag Sexagesimae zur Bundestagswahl, mit Evangelium und Predigttext aus Joh 20,19-29. Perikopenvorschlag aus dem Material #FürAlle.

Die Welt ist klein geworden: Amerika, Trump, die Bundestagswahl, die Ukraine – die große Politik findet irgendwie direkt um die Ecke statt. Im Fall der Ukraine stimmt das sogar. Man denkt immer, sie wäre weiter weg, aber nein: Wie von hier bis nach Madrid, mehr ist es nicht. Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat es in einem Vortrag in der Hechelei  erzählt. Politik findet direkt um die Ecke statt. Der Angriff auf die Ukraine war morgen vor drei Jahren. Die Welt ist klein geworden.

Das bekommen auch die Jünger zu spüren, zu ihrer Zeit, in ihrer Situation. Aus Angst haben sie sich miteinander eingeschlossen. Denn die Kreuzigung Jesu hatte auch einen politischen Aspekt:

Jesus war wahrer Mensch und ist wahrer Gott. Man kann ihn darum aus dem Weltgeschehen nicht herauslösen oder sagen, er wäre nur für die Schöpfung und die Wunder zuständig. So funktioniert das nicht. Gelebtes Leben und gelebte Frömmigkeit gehören zusammen und sind uns darin ein Vorbild, dem wir als Christinnen und Christen nachfolgen sollen. Wieder zitiere ich an dieser Stelle Dietrich Bonhoeffer: Es geht um Beten und Tun des Gerechten.

Zurzeit der Jünger, während der Kreuzigung, hatte das ein doppeltes: Israel war von den Römern besetzt, also ein Vasallenstaat. Jesus wurde auch deswegen gekreuzigt, weil er als Wanderprediger, der er für damalige Augen durchaus war, Unruhe stiftete.

Unruhe stiftete…
Im Gegensatz zu den Römern, die dort stationiert waren und für Ruhe und Ordnung sorgen sollten. Jesus wurde von einem römischen Gericht verurteilt.
Im Gegensatz zum Tempel, seinen Priestern und Rabbinern, die sich mit der Besatzung gerne gut stellten.
Im Gegensatz zum Volk, das den Abweichler hasste, weil er den Alltagsfrieden störte, in dem man sich, möglichst zum eigenen Vorteil, eingerichtet hatte.

Wenn Johannes schreibt, dass sich die Jünger vor den Juden fürchteten, war das noch eine innerjüdische Angelegenheit. Jesus war noch nicht aufgefahren, die Kirche noch nicht gegründet. Dass es trotzdem für unsere Ohren abschätzig klingt, liegt daran, dass der Antisemitismus mit der Gründung der Kirche einen Platz in ihr bekam. Das ist aber nicht richtig und war so auch nicht gedacht, als aus einer Religion zwei wurden.

Auch darauf muss man immer wieder aufmerksam machen, in der Betrachtung der Schrift, bis in die Gegenwart: Denken wir an die beiden rothaarigen Jungen, Ariel und Kfir, die unter den höhnischen Jubelrufen der Palästinenser in Särgen zurückgegeben wurden. Ihre Mutter Shiri Silberman Bibas sogar erst später, man gab erst absichtlich eine falsche Leiche aus. Wieder zitiere ich Bonhoeffer: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ Das gilt bis heute, für alle Christen. Auch wir haben gregorianische Melodien hinten im Gesangbuch.

In all das, durch Raum und Zeit und verschlossene Türen hindurch, tritt Jesus in unsere Mitte und spricht: „Friede sei mit euch!“ Und ich möchte am liebsten antworten: „Du hast vielleicht Nerven!“ Aber die Jünger freuen sich, weil er da ist.

Wobei, was heißt eigentlich da? Er ist greifbar, zumindest damals, mit seinen Wunden und seinen Worten. Aber er ist eben auch der Auferstandene. Lazarus und der Sohn der Witwe von Sarepta wurden von den Toten auferweckt, zurück in ihr irdisches Leben. Jesus ist eine Schleife weiter. Hat den Tod durchschritten und ist in der Ewigkeit wieder herausgekommen. Auf der Erde, in seinem irdischen Leib, ist er nur noch zu Besuch. Das ist ein anderes Leben als das, das wir haben. Aber die Jünger freuen sich. Dass er da ist, dass es weitergeht, wenn sie auch noch nicht wissen wie. Von Verstehen kann keine Rede sein.

Vielleicht versuche ich das auch. Statt meiner Ratlosigkeit und Genervtheit es wie die Jünger zu machen: Mich einfach zu freuen. Sei es nur für einen kurzen Augenblick. Wenn nicht über Jesus, dann über irgendetwas Anderes. Es gibt soviel Schönes auf der Welt.

Mehr Zeit als für den Augenblick lässt Jesus gerade ohnehin nicht. Der Friedensgruß kommt noch einmal und der Auftrag zum Handeln direkt hinterher: „Er blies sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“

Wieder zäume ich in meiner Unzufriedenheit und in den ganzen Sorgen, die ich mir durch Trump, Putin und die Wahlen mache, das Pferd von hinten auf: Bin ich jetzt Gott und entscheide, wem Barmherzigkeit widerfährt? Ich, die froh ist, wenn sie ihren Alltag geregelt kriegt und der Atem, sei er auch heilig, gerade gereicht hat, um im Wahlkampf wenigstens ein bisschen mitzuhelfen?

Doch vielleicht denke ich einfach nur zu weit: Jesus hat das irdische Leben durchmessen und ist wieder in der Ewigkeit angekommen. Ich bin noch hier, in der irdischen Phase. Durch Jesus angeblasen mit dem Heiligen Geist, aber mehr auch noch nicht. 

Ich gucke also noch einmal, diesesmal mit dem, was ich realistisch habe: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ Das im Hier und Jetzt zu versuchen, statt über die Ewigkeit und Gottes Barmherzigkeit zu spekulieren, wäre ein Anfang. Zu tun gibt es vor meiner Nase genug, wenn ich das Kämmerchen, in das ich mich mit den Jüngern eingeschlossen habe, verlasse.

Die Spaltung der Gesellschaft – wo bald jeder seine eigene Brandmauer hat, wo es nicht reicht, dass ich es gut meine, ich soll auch auf bestimmte Art denken, also so wie die Anderen; wo ich oft den Eindruck habe, es gäbe nur ein einziges Richtig oder Falsch – es gäbe genug zu tun.

Die Sünden, wenn es denn überhaupt Sünden sind und nicht mein Hochmut, der mit dem Finger zeigt – also die Sünden, die ich anderen vergebe, sind oftmals meine eigene Sünde, die nicht auf das zugehen will, was ihr fremd ist. Sünde heißt Trennung, von Sund, was auf Ostwestfälisch Graben bedeutet. Anderen die Sünden zu vergeben ist darum der Ausruf, aufeinander zuzugehen, die Spaltung, den Sund, zu überwinden, zuerst in mir selbst.

Trotzdem muss man nicht alles verstehen oder rechtfertigen. Wenn es z.B. um Menschenrechte geht. Von Karl Popper gibt es dafür das sog. Toleranz-Paradoxon. Er sagt: „Wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

Doch Jesus erläutert nicht wann und wo und wie und in welchem Fall. Er gibt Geist, Frieden und den Auftrag. Machen müssen wir es selbst und entscheiden auch, mit der Bibel als Maßstab.

Nur Thomas ist am Anfang nicht dabei. Er traut der ganzen Sache nicht. Erst eine Woche später ist er da und glaubt Jesus erst, als er dessen Wunden berühren darf. 

„Wer nicht hören will, muss fühlen“, hieß es in meiner Kindheit noch.
Damit waren aber die eigenen Wunden, der eigene Hintern gemeint.
In Jesu Wunden die eigenen Verletzungen fühlen: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ 
„Lass es los“, singt Elsa in der Eiskönigin.

Dass niemand Thomas ausgestoßen hat, weil er nicht genug wusste oder es nicht richtig oder wie alle anderen gemacht hat, möchte ich sicherheitshalber auch noch sagen. Thomas gehörte weiterhin dazu, mit allen Zweifeln.

Politik bewegt sich in konzentrischen Kreisen: Sie fängt bei mir selber an, geht weiter in unserer Gruppe, Familie, Gemeinde, mit der wir hinter offenen oder verschlossen Türen zusammensitzen, raus in die Gesellschaft, bis hin zur Regierung. Und in all dem stehen wir, steht jedes Ich mittendrin. Aufgerufen zum Frieden, zum aufeinander Zugehen, zum Grenzen setzen und zum Handeln.

Beten und Tun des Gerechten verlangt Bonhoeffer. Genau das möchte ich heute weitergeben. Auch wenn wir Jesus nacheifern, die Ewigkeit haben wir noch nicht durchmessen. Es genügt, wenn wir mit unseren irdischen Mitteln das tun, was wir verstanden haben. Soweit es mich betrifft, ist das heute zweierlei, zu dem ich Sie und Euch ebenfalls ermuntern möchte: In den Gottesdienst zu gehen und anschließend zum Wählen einer demokratischen Partei.

Beten und Tun des Gerechten, Gottesdienst und Bundestagswahl. 
Danach geht es weiter. Friede sei mit euch! Amen.


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