Energie und Entsetzen

Über einen Teil der Tischplatte mit den Comics drauf fotografiert. Man sieht an die 22 Stück, also etwa die Hälfte. In der Mitte des Tisches sieht man längs an der Ritze, dass der Tisch aus mehreren Elementen zusammengeschoben ist.

Heute endet im Historischen Museum Bielefeld die Sonderausstellung „BildSprache – Jüdische Kultur und jüdische Geschichte in Graphic Novels“, die dort im Rahmen der hiesigen jüdischen Kulturtage gezeigt wurde. Ich bin direkt zu Anfang hin und war entzückt über diese klitzekleine und doch großartige Ausstellung. Sie bestand nämlich „nur“ aus einer Informationstafel, ein paar Plakaten mit Titelbildern, zwei Sesseln mit Stehlampe zum Lesen – tatsächlich erlaubt – und einem großen Tisch mit gut 40 Comics, will sagen, Graphic Novels. So einfach kann es sein.

Als ich aus dem Museum wieder zu Hause war, bestellte ich mir von dem Gesehenen zwei: „Die drei Leben der Hannah Arendt“ von Ken Krimstein, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Hanns Zischler sowie „Kritik der Gewalt. Eine Illustrierte Geschichte radikalen Denkens“ von Brand Evans und Sean Michael Wilson, aus dem Englischen übersetzt von Sven Wunderlich.

Die Graphic Novel von Krimstein habe ich verschlungen! Wenn ich an Hannah Arendt denke, steht mir immer die ältere Dame in schwarzweiß vor Augen, wie sie Günter Gaus kluge Antworten gibt. Krimstein jedoch holt mit skizzenhaften Strichen die energiegeladene, junge Wissenschaftlerin hervor. Das Ganze ebenfalls in schwarzweiß, nur Arendt immer mit grünem Oberteil. Wie bei Spielberg, aber in hoffnungsvoll und lebendig. Und wen sie alles kannte! Allein das ist faszinierend. Arendts Philosophie und politische Theorie hätte er trotzdem etwas ausführlicher darstellen können.

Evans und Wilson versammeln sechs Comiczeichner:innen, mit denen sie auf jeweils zehn Seiten zehn Theoretiker:innen und deren Hauptthesen zu Gewalt und Unterdrückung darstellen. Dabei auch hier natürlich Hannah Arendt, dazu Michel Foucault, Susan Sontag, Noam Chomsky und andere. Manches kannte ich schon, anderes war mir neu oder ich habe es zum ersten Mal als gedankliche Struktur herausgehoben gesehen. Auf zehn Seiten Comic wird das erstaunlich dicht. Ich werde darum einiges noch weitere Male anschauen müssen.

Eine Graphic Novel hatte ich schon vorher gelesen. Sie gehört, soweit ich weiß, auch nicht in die jüdische Reihe, in die der Befreiung aus Unterdrückung gleichwohl: „Der Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist, aus dem Schwedischen übersetzt von Katharina Erben. In dem Comic von Strömquist geht es um die Vulva und was das Patriarchat alles angerichtet hat, um sie zu entwerten, unsichtbar zu machen und nicht ernst zu nehmen. Zwischendurch habe ich mich beim Lesen gefragt, ob ich mir das eigentlich noch geben muss. Selbst in der historischen Herleitung bin ich es so leid. Doch dann kam die Autorin mit einer faszinierenden Auslegung der Feigenblätter in Gen 3,7. Aus denen machten sich Adam und Eva Schurze, als sie gewahr wurden, dass sie nackt waren. Strömquist zählt einiges auf, was Frauen meinen, mit einem Feigenblatt bedecken zu müssen. Damit hatte sie mich dann wieder und sowas von recht mit ihrem Unbehagen darüber hat sie auch!

Mittlerweile bin ich wieder auf ein Buch ohne Bilder umgestiegen. Was so auch nicht stimmt, denn in meinem Kopf ruft es jede Menge Bilder hervor: „LTI. Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer. In meinem Umfeld wird häufig über Victor Klemperer gesprochen. Da dachte ich, es wäre Zeit, die LTI tatsächlich einmal durchzulesen. Sprache schafft Wirklichkeit, die durch Bilder in den Köpfen entsteht, die sie dort erzeugt. Das dekliniert Klemperer für das Dritte Reich durch. Gestern bin ich auf der Mitte des Buches angekommen. Seinen Inhalten habe ich nichts hinzuzusetzen. Die schöne Sprache Klemperers aber möchte ich unterstreichen: Dieser Rhythmus, der sich Zeit nimmt, Gedanken und Sätze zu entfalten. Das habe ich so zuletzt in der Schriftsprache von Benedikt XVI. und Thomas Gottschalk gefunden. Auf diese Verbindung wäre ich ohne die Lektüre aller drei nicht gekommen und wundere mich immer noch.

Einen Podcast habe ich beizubringen: „Legion: House of Scam“, aufgezeichnet von Undone für die ARD in sechs Folgen des Grauens. Angefangen mit einer Frau, die auf virtuellen Heiratsschwindel hereingefallen ist, taucht der Podcast ein in die Welt des Internetbetrugs. Die Scammer:innen, also die Betrüger:innen, sitzen als Sklaven in Scammer-Firmen. Wie in Legebatterien produzieren sie dort nach Drehbuch Zeug, das sie ins Internet stellen. Und zwar nicht nur diese Mails des afrikanischen Prinzen, die wir alle kennen. Sie loggen sich auch in Kontaktforen und Apps für Partnersuche ein und mischen dort mit. Je nach Beziehungsstadium ist eine andere Abteilung dran und zum Erfolg verdammt, sonst gibt es Strafen. Ich habe lange nicht so etwas Trauriges angehört. Hinter jeder dieser albernen Mails, in der jemand wegen eines Erbes, der Liebe oder einem Bankproblem radebrecht, sitzen Gefangene in der Hölle. Das hatte ich nicht erwartet. Und dass sie damit jede Menge Ertrag machen, auch nicht.


Entdecke mehr von Pressepfarrerin

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.