In der Kirchengemeinde meiner Heimatstadt gab es einen Oberstaatsanwalt. Er arbeitete am Oberlandesgericht, eine Stunde mit dem Auto entfernt. Alle kannten ihn. Er war groß und stattlich und hatte eine leichte Schnappatmung wie ein Karpfen auf dem Trockenen. Man musste gar nicht gucken, ob er in der Presbyterbank saß, neben dem rechten Seitenportal, wo er nach dem Gottesdienst die Kollekte einsammelte. Man hörte ihn atmen, jeden Sonntag, in den Predigtpausen und der Stille beim Gebet: „Schnapp!“
Nicht nur in der Kirche, in der ganzen Stadt kannte man ihn. Das ist oft so, wenn einer als Akademiker und Presbyter für das Gemeinwohl unterwegs ist. Der Oberstaatsanwalt, Doktor des Rechts, saß außerdem noch im Stadtrat, immer ansprechbar, kümmerte sich, war Kirchmeister, Verwaltung und Finanzen waren sein Metier.
Verheiratet war er nicht, sondern lebte mit seiner alten Mutter, bis sie starb. Mit Kindern hatte er nichts am Hut. Wir mochten ihn trotzdem. Wir fühlten uns von ihm beschützt, er achtete darauf, dass wir zur Kirche und aufs Stadtfest konnten. Der Klingelbeutel war auch für die Jugend da. In einer Kleinstadt irgendwo zwischen tausend Tälern gibt es für Jugendliche nicht allzu viel.
Bis er plötzlich krank wurde und in das Krankenhaus musste, in dessen Verwaltungsrat er saß. Nach ein paar Tagen fiel jemandem ein, dass man beim Oberlandesgericht Bescheid sagen sollte, damit der Herr Doktor nicht unentschuldigt fehlte. Doch dort kannten sie ihn nicht. Als Generalstaatsanwalt nicht, als Richter oder Rechtsanwalt nicht und als Saaldiener auch nicht. Man befragte die Kammer oder das Land, irgendwo muss ein leitender Staatsanwalt ja angemeldet sein, aber es gab ihn nicht, nirgends.
Der Herr Doktor war ein Hochstapler. Zu mehr als zwei Semestern Jura hatte es nicht gereicht. Dann kehrte er in die Heimat zurück, wurde Geselle im ererbten Handwerksbetrieb seiner Familie und lebte später von einer kleinen Versehrtenpension und der Witwenrente seiner Mutter.
Zuerst war man bestürzt. Die Stadt, die Kirche, die Leute, keiner wollte es glauben, die vielen Verdienste. Dann lachten sie ihn aus. Jeder redete über ihn und wo das Gespräch für einen Augenblick verstummte, genügte ein kurzes „Schnapp!“ und es ging wieder von vorne los. Der Herr Doktor war mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen und saß zu Hause, ohne dass man ihn sah. Er traute sich nicht raus, weil er sich so sehr schämte.
Es war mein tief konservativer und gläubiger Religions- und Deutschlehrer (der mich denken und schreiben lehrte, aber das ein andermal), der für ihn sprach: Für den Mann, der sich immer um das Wohl der Stadt und der Kirche gekümmert hatte, ohne etwas für sich zu beanspruchen. Der einen großen Fehler gemacht hat, was ihm aber die Treue und die guten Taten nicht nimmt. Über Luther, der uns gleichermaßen gerecht und schuldig nannte, wer wollte das für sich bestreiten?
Was aus dem Herrn Doktor wurde, weiß ich nicht mehr. Es ist ja nicht verboten, kein Oberstaatsanwalt zu sein. Ob der Kringel am Anfang seiner Unterschrift auf den Vornamen oder doch auf einen vermeintlichen Dr. jur. verwies, hatte man noch überprüfen wollen. Dass er selbst nie dementiert, aber auch nie behauptet hat, Oberstaatsanwalt zu sein, machte schließlich viele nachdenklich. Seine Ämter nahm er nicht mehr auf. Bei seinem Tod, zwölf Jahre später, gedachte man ihrer Erfüllung in Dankbarkeit.
Mir ist nicht nur der Oberstaatsanwalt, sondern auch das Plaidoyer meines Religionslehrers im Gedächtnis geblieben. Es ereilt mich immer dann, wenn ich versucht bin, einen Menschen anzuklagen. Und mehr gibt es manchmal nicht zu sagen.