
Als ich im Juni in Rom war, fotografierte ich mehrere Seitenflächen des Altars von San Marco Evangelista, weil sie, wie ich finde, unübersehbar eine Vulva abbilden. Wieder zu Hause versuchte ich, an Erläuterungen dazu zu gelangen, wurde aber nicht fündig.
Nicht bezogen auf diesen Altar, sondern allgemein zu kirchlicher Kunst, entdeckte ich schließlich bei Elke Pahud de Mortanges, Bodies of Grace an Memory, einen Abschnitt über „Die Seitenwunde Jesu als Vulva“; danach einen weiteren, in dem die Autorin nach ‚genitaler Geschlechtsanatomie oder funktionaler Heilsanatomie‘ fragt. Die christliche Kunstgeschichte ist genderfluider und darin kreativer, als man gemeinhin annimmt.

Nachdem ich Ende Juni aus Rom zurückgekehrt war, arbeitete ich knapp zwei Monate bis zum nächsten Urlaub. Das klingt nach einer kurzen Spanne. Doch für mich schien sie ewig zu dauern, ab August war es der blanke Horror. Auf wirklich jeden meiner Knöpfe wurde gedrückt, mehrfach und mit Anlauf, beruflich, privat, alles dabei, ohne Zusammenhang oder Anlass, den ich hätte steuern können.
Immerhin positiv zu vermerken ist, wie viel sich seit meiner Zeit im Kloster verändert hat, sodass ich für mich einstand und mich zu wehren wusste. Ich zog mich am eigenen Kragen wieder heraus.
In der letzten Augustwoche hatte ich wieder Urlaub, 14 Tage bis Anfang September. Eigentlich sollte er mit dem BarCamp Kirche West losgehen. Aber das ist ausgefallen, ohne dass es abgesagt oder Tweets mit Nachfragen beantwortet wurden. Ich war nicht die Einzige, die ihre Ferien an diesem Termin ausgerichtet hatte und fand ein ghostendes BarCamp daher ziemlich misslich. Ich hatte ja schon öfter gesagt, dass die digitale Kirche mittlerweile in den Strukturen angekommen ist. Hier sah man es deutlich.
Eine Alternative hatte ich trotzdem nicht geplant. Ich wollte mich erholen und das kann ich am besten zu Hause. Die erste Woche verschlief ich nahezu vollständig, zumindest lag ich meistens im Bett und las. Erst in der zweiten Woche rappelte ich mich langsam wieder auf. Ich aß mit Frau Juna Waffeln und Flammkuchen, fuhr zur Bibliothek, wo ich mehrere Bücher lieh, besuchte nach langem wieder meinen Supervisor und ging zur Friseurin.

Die Friseurmeisterin bestätigte mir, was ich schon länger vermutet, aber bisher meiner Einbildungskraft zugerechnet hatte: Dass mir nach Corona die Haare ausfielen. Nicht so viele, dass man es im Alltag sieht, aber genügend, dass beim Kämmen nach dem Duschen breitere Furchen als sonst entstehen. Die Friseurin meinte, sie hätte mittlerweile über zehn Kundinnen, bei denen sie das beobachtete.
Weil ich vor lauter Erholungsbedürftigkeit nichts zu tun hatte, habe ich außerdem das Theater um Winnetou in voller Breite mitbekommen. Ich war in meiner Kindheit und bin bis heute ein großer Winnetou-Fan. Elspe lag um die Ecke und wir Kinder spielten Cowboy und Indianer in den Sauerländer Wäldern, die dafür wie gemacht waren. Meine Freude am Bogenschießen habe ich von dort.
Dass vieles von dem nicht stimmte, was Karl May geschrieben hatte, weil er erst spät und nur einmal nach Amerika reiste, wussten wir, das hatten wir in der Schule gelernt. Richtige oder genauere Informationen waren zu damaliger Zeit in einer Kleinstadt und ohne Internet nicht zu bekommen. Zum Respekt vor dem Leben anderer Menschen, Völker und Kulturen gesellte sich daher wie von allein die Erkenntnis, dass man die Wege anderer vom eigenen Standpunkt aus nicht ermessen kann.
Zudem erinnere ich mich an ein Gespräch zwischen meinem Vater und mir. Er war politisch sehr konservativ und ich ein früher Teenager, die von Winnetou schwärmte. Die ersten drei Bände gingen ja noch einigermaßen (!), beschied er mir, aber „Winnetous Erben“ wäre in seinem weißen Herrenmenschentum nahezu unerträglich. Ich begehrte auf. Mein Winnetou, wie konnte Papa es wagen? Nie würde Karl May so denken oder schreiben! Doch mein Vater blieb hart: „Dann lies es noch einmal.“
Wer bei den älteren Semestern nur schlichte Nostalgie vermutet, verkennt, wie differenziert wir bereits damals über Winnetou sprachen. Dass es dem bewussten Verlag nicht gelungen ist, das weiterzuentwickeln und in seinem Buch in angemessener Weise lesbar zu machen, ärgert mich gerade deswegen. Diese Eindimensionalität ist sowohl mit Blick auf die Vergangenheit als auch für die Zukunft der Rezeption falsch. Und die woken Greenhörner, die nur noch ihre Sicht der Dinge gelten lassen, bis dahin, dass sie meinen, anderen deren Jugend erklären zu können, tun ihr Übriges dazu. Dass Buch und Film wohl wirklich schlecht gemacht sind, habe ich folglich nicht der „Diskussion“ auf Twitter, sondern dem Springer Verlag (Welt+) entnommen. Meine eigene Meinung fand ich Tage später in einem Beitrag des Deutschlandfunks wieder. Der Respekt vor den Lebensweisen nicht nur indigener Menschen und Kulturen muss die Konsequenz und nicht der Widerspruch zu Karl May sein. Wege dahin gibt es viele.