Eigentlich hatte ja alles im Frühjahr beim Grillen angefangen, doch dann war so viel zu tun, dass ich Wolf Lotters knallgelbes Buch „Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken“ erst jetzt beim Urlaubsfrühstück zu Ende las. Geschrieben hatte er es, um darüber nachzudenken, wie wir von der Industriegesellschaft und ihren Problemlösungs- und Organisationsstrategien zur Wissensgesellschaft gelangen. Natürlich nicht einfach so, sondern mit Absicht: „Jeder Fortschritt besteht aber in Verbesserungen und nicht allein im Anspruch darauf, etwas ‚anders‘ zu machen. Das ist kein Wert an sich.“ Wie Lotter sich das vorstellt, leitet er historisch, oft von verblüffenden Beispielen und im Einst-Jetzt-Schema, z.B. unterschiedlicher Innovatorentypen, ab. Auf die Idee, Differenzierung und Motivation anhand der Speisegewohnheiten von Veganern zu erklären, muss man erst einmal kommen. Dass Innovation keine Aufgabe der Jungen ist, sondern als Anspruch in jedem Alter und Erfahrungshintergrund gilt, traf bei mir einen wunden Punkt, um so mehr fühlte ich mich von Lotters Buch zum Denken eingeladen. Dabei fiel es mir beim Lesen zunehmend schwer, mich zu konzentrieren, immer wieder schweiften die Gedanken Richtung Kirche und Gemeindeaufbau ab, bis ich irgendwann verstand warum. Schon länger hatte ich mich gefragt, was es eigentlich bringt, diese ganzen Bücher zu betrachten, Diskussionen zu führen und Panels zu besuchen. Was bleibt hängen, wenn danach das Leben weitergeht? Die Antwort darauf konnte ich mir bei der Lektüre dieses Buches geben: Immer wieder verknüpfte ich Lotters Thesen mit meinem kirchlichen Erleben und Arbeiten. Ich habe lange kein Buch mehr gelesen, bei dem ich so wenig behalten und trotzdem so viel verstanden habe. Das hat mich gleich mehrere Schritte weitergebracht. Ich finde das super und die Kirche, nun ja…
Gegen Ende seiner Streitschrift empfahl Lotter eine ethische Abhandlung, die ich schon passend zum Urlaub hier liegen hatte: Karl Homann, „Sollen und Können. Grenzen und Bedingungen der Individualmoral.“ Von der rot-changierenden Farbe des Umschlags inspiriert, las ich das Buch zu Nudeln mit Bolognese, wobei mich der Appetit zu Gabelspaghetti trieb. Die gab es immer in meiner Kindheit. Das passte insofern gut, als dass Homann die Freie Marktwirtschaft als Möglichkeit, ja Notwendigkeit ethisch gelingenden Handelns betrachtet und nicht als unmoralischen Widerspruch oder faulen Kompromiss zu anständigem Verhalten. So bin ich, abseits jeder Wissenschaftlichkeit, zu Hause erzogen worden. Homann nun geht das Thema ganz klassisch an. Man schlägt das Inhaltsverzeichnis auf und das geübte Auge erkennt sofort: Das muss ein Philosoph oder ein Theologe sein (tatsächlich beides) und genau mit dieser Stringenz entfaltet er seine Gedanken. Das ist keine leichte Kost und ich las das Buch mit Textmarker, Stift und Haftnotizen; dankbar (auch als Studentin, die ich einmal war), dass es Professoren gibt, die methodisch so exakt und elegant schreiben, dass es nicht nur der Forschung, sondern auch der Lehre dient.
Inhaltlich geht es Homann darum, dass mit der Individualethik und ihrem Anspruch ans Sollen allein keine hinreichende Moral mehr hervorzubringen ist. Vielmehr müssen das Sozialgefüge und seine Mechanismen samt aktuellen Lebensbedingungen mit in den Blick genommen werden. Heraus kommt ein notwendiger Ordnungsrahmen, der nicht nur durch Regeln und Sanktionen, sondern durch Ideen, Lösungen und Möglichkeiten gestaltet werden soll (wie gesagt von Lotter empfohlen). Das deklinert Homann akribisch am Gefangendilemma durch, als Wirtschaftsethiker getragen von der Annahme, dass Ethik nicht nur der Wirtschaftstheorie, sondern umgekehrt jene auch der Ethik dienen kann. Die Erbsünde konnte er auf diese Weise erklären. Bemerkenswert ist auch seine Kritik an der „moralischen Aufrüstung der Einzelnen“, mit der Komplexität reduziert, aber keine Problemlösung gewonnen wird. Was Homanns Ausführungen für den Umgang mit Gerechtigkeit im NT bedeuten (z.B. in den Gleichnissen), darüber möchte ich weiter nachdenken. Außerdem werden mich die aus dem Gefangenendilemma abgeleiteten Handlungsvarianten bzw. die Spieltheorie an sich noch weiter beschäftigen.
Als Drittes las ich ein Buch über den Nahostkonflikt von Richard C. Schneider: „Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel.“ Dass es dazu Couscous-Salat gab, erklärt sich vielleicht von selbst und auf die Idee, in diesem Post das Geschirr passend zu den Büchern auszusuchen, kam ich, als die Schale für den Salat farblich genau zum blau-weiß-gestreiftem Hemd des Autors auf dem Umschlagfoto passte. Schneider erklärt, was in Sachen Israel/Palästina in Israel gerade los ist und zwar so, dass man es auch verstehen kann. Das ist keine Selbstverständlichkeit und mir in mehreren Hinsichten wichtig: Ich bin bezogen auf Israel eine Spätberufene, bis vor ziemlich genau acht Jahren war das für mich kein Thema. Doch dann kam das Kairospapier und das Meiste, was ich bei Kirchens dazu erfuhr, bewirkte, dass mir Hören und Sehen verging. Seit dem weiß ich, dass alles, was man über Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft hört, wahr ist und versuche, dagegen am Ball zu bleiben. Dafür Texte zu finden, die die Details in Ruhe erklären, ist schwierig; Abhandlungen, die sich vornehmen, aus der Mitte heraus zu Information und Meinungsbildung anzuregen, ebenfalls. Schneider merkt man an, dass er möchte, dass man die Vielfalt der Zusammenhänge und Wechselwirkungen begreift. Die schlichte Pointe, mit der er den BDS zerlegt, ist großes Kino. Ich werde dieses Buch noch öfter zur Hand nehmen, um mich für Gespräche zu wappnen, von denen ich gern wüsste, wie sie sein müssen, damit das Anrecht Israels besser verstanden wird.
Die Bilder zeigen die jeweiligen Bücher mit den Mahlzeiten.